Historische Entwicklung der Miesmuschelfischerei in Niedersachsen

 

Das Muschelsammeln

Die Bewohner an der niedersächsischen Küste versorgten sich traditionell für den Eigenbedarf auch mit Nahrungsmitteln aus dem Meer. Unter anderem standen auf ihrem Speiseplan Miesmuscheln. Das Wattenmeer, mit seinen speziellen Gegebenheiten und seiner besonderen Tierwelt, verlangte eigene Fischereitechniken in Bezug auf den Muschelfang. Die erste Fangtechnik bestand darin, dass die Muscheln zu Fuß von den bei Ebbe trockengefallenen Wattflächen abgesammelt wurden.

 

Vom Muschelsammeln zur Muschelfischerei

Die erste schriftliche Erwähnung des Fischens für den Fremdbedarf stammt aus dem Jahre 1812. Die französischen Besatzungstruppen deckten einen Teil ihres Nahrungsmittelbedarfs mit Muscheln.

Später, etwa Mitte des 19. Jahrhunderts, wurden dann auch die Muschelschalen verarbeitet. Der gebrannte Muschelkalk wurde bei der Kultivierung der nah gelegenen Moore zur Düngung eingesetzt und auch als Baustoff verwendet. Das steigerte den Bedarf an Muscheln bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.

Nach alter Aktenlage, brachte erstmalig 1887 ein Fischer aus Carolinensiel Speisemuscheln mit Erfolg auf den Markt. Eine erste Trennung von Fischerei und Vermarktung zeichnete sich ab; mehrere Norddeicher Fischer arbeiteten für einen Emdener Fischhändler. Um den gestiegenen Bedarf zu decken, bedurfte es veränderter Fangmethoden. Es kamen Segelschiffe zum Einsatz, die es ermöglichten, größere Fangmengen anzulanden. Die Schiffe steuerten die großen trockenfallenden Muschelbänke an.Vom Segelschiff aus ruderte man mit einem Beiboot zu den Muschelbänken, um dort mit einer Forke die Miesmuscheln aufzunehmen und sie dann mit dem Boot zum Schiff zu bringen. 1908 wurde der erste Motorkutter für die Muschelfischerei in Dienst gestellt.

 

Die Miesmuschel als Eiweißlieferant

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Verwendung der Muscheln als Dünger untersagt. Miesmuscheln galten von nun an als reines Nahrungsmittel. Die Nachfrage als Speisemuschel war aber zunächst noch gering, die Anlandung 1899/1900 belief sich lediglich auf ein Gewicht von 30 Tonnen. Durch die verbesserte Bahnanbindung und die damit einhergehende Anbindung ans Hinterland steigerte sich die Nachfrage. Fischfang und Handel trennten sich in zwei selbständige Bereiche. 1909 wurden dann bereits 490 Tonnen Miesmuscheln vermarktet. Der Vertrieb erfolgte durch den Fernversand der Muscheln in Körben sowie auch in Konserven. Hauptabsatzgebiet war das Rheinland.

Der Erste Weltkrieg mit dem einhergehenden großen Nahrungsmittelbedarf erhöhte die Bedeutung der Muschel als Eiweißlieferant. Fast alle vorhandenen Kutter beteiligten sich zwischen 1916 und 1917 an der Fischerei von Miesmuscheln und Austern. Der Jahresertrag wurde von 2600 Tonnen 1915/16 auf 6100 Tonnen 1916/17 gesteigert. Nach dem Krieg ging die Nachfrage dann wieder zurück. Zentren der ostfriesischen Muschelgewinnung waren Carolinensiel und Norddeich.

In dieser Zeit entwickelten die Fischer neue Fangmethoden. Der Einsatz von Schleppnetzen ermöglichte nun auch das Abfischen der Muscheln aus nicht trockenfallenden Wattbereichen. Darüber hinaus gab es erste Versuche, Muschelkulturen nach niederländischem Vorbild in ständig überfluteten Bereichen des Wattenmeers anzulegen.

1937 wurden allein in Norddeich 22 Kutter mit 58 Besatzungsmitgliedern im Muschelfang eingesetzt. 4 weitere Betriebe aus anderen Häfen kamen hinzu. Die Kutter waren bei einer Länge von 10,5 bis 15,5 Metern mit ca. 30 PS starken Motoren ausgerüstet. 1938 wurde eine Polizeiverordnung zum Schutze von Muschelkulturen erlassen. Es wurden die natürlichen Muschelbänke bei Borkum und Norderney sowie zwei Gemeinschafts- und 15 Einzelkulturen befischt.

 

Der Zusammenbruch der Muschelfischerei

Der Zweite Weltkrieg sorgte wie auch der Erste Weltkrieg für einen erhöhten Bedarf an eiweißhaltigen Nahrungsmitteln. Da sich aber die Fangmethoden und die technischen Möglichkeiten in der Zwischenzeit verbessert hatten, kam es zu einer rücksichtslosen Befischung. 1939/40 wurden 5200 Tonnen Miesmuscheln angelandet. Mehrere harte Winter in Folge reduzierten den Muschelbestand zusätzlich. Die Muschelfischerei brach zusammen. Ende 1940 wurden die dezimierten Muschelbestände zusätzlich von einem Parasiten ( Mytilicola intestinales L .) befallen. Die Fleischqualität wurde soweit beeinträchtigt, dass die Muscheln ungenießbar wurden. Die Muschelfischer mussten auf andere Fangobjekte ausweichen.

 

Die Wiederaufnahme der Muschelfischerei

Anders als das niedersächsische und niederländische Wattenmeer, war das schleswig- holsteinische Wattenmeer sowie die westliche Ostsee von dem Parasitenbefall verschont geblieben. Durch die inzwischen große europaweite Nachfrage nach Miesmuscheln wurden in Schleswig–Holstein die Anlandungsmengen derart erhöht, dass die Miesmuschelbestände dort stark zurück gingen. Die dortige Landesregierung reagierte darauf mit neuen Verordnungen und Gesetzen zur Reglementierung der Miesmuschelfischerei.

Mitte der 50er Jahre ging der Parasitenbefall in Niedersachsen und in den Niederlanden deutlich zurück. Die Miesmuschelfischerei wurde dort wieder in größerem Umfang aufgenommen. Dadurch verlor Schleswig-Holstein als Muschellieferant zunehmend an Bedeutung, obwohl sich die Anlandungsmengen nicht verringert hatten.

 

Die Einführung der systematischen Kulturwirtschaft

Im Hinblick auf die hohe Nachfrage und einem begrenzten natürlichen Bestand an Miesmuscheln, begann 1957 die Fischereifirma Gerjets, unterstützt durch die Bundesforschungsanstalt für Fischerei (Hamburg), mit der Anlage von Miesmuschelkulturen in der Innenjade, zunächst von Varel aus mit anderen Fischern. Ende der 50er Jahre verlegte sie dann die Kulturen in die Außenjade und betrieb die Fischerei von Hooksiel aus.

Noch bis in die 70er Jahre hinein nutzten einige Norddeicher Küstenfischer als zusätzliche Einnahmequelle die Muschelfischerei. Generell entwickelte sich jedoch die Miesmuschelfischerei seit den 50er Jahren zu einer eigenen Fischereisparte. Die reine Muschelkulturwirtschaft führte im Laufe der nächsten Jahre zu einer Stabilisierung der Anlandemengen, bei gleichzeitiger Schonung der Wildmuschelbestände. Sie setzte sich in der Muschelfischerei durch und wird bis heute betrieben. Ihre Vorteile liegen im besseren Heranwachsen der Muscheln sowie in der kontinuierlicheren Belieferung der Abnehmer durch Vorratshaltung.

Nach der Sturmflut-Katastropfe 1962 mit schweren Verlusten auf den Kulturen betrieben nur noch die Betriebe Christoffers (Norddeich), Noormann (Norddeich) und Gerjets (Hooksiel) die Miesmuschelkulturwirtschaft weiter.

 

Die heutigen Betriebe

Der Familienbetrieb Christoffers fischt schon in der fünften Generation Miesmuscheln. Zwischen den Kriegen hatte Gerhard Christoffers erste Kulturversuche unternommen und unterhielt seit den 50er Jahren mehrere Muschelkulturen auf der Ems. In den 60er Jahren spezialisierte sein Sohn sich mit dem Neubau seines Muschelkutters „Elli“ – mit entsprechender Ladekapazität - auf die reine Miesmuschelfischerei und belieferte die Fischereigenossenschaft. 1975 übernahm sein Sohn Wolfgang den Kutter und baute neben der Fischerei den Direktversand mit frischen Speisemuscheln in das Rheinland auf. 1977 nahm er den neue Muschelkutter „Andrea“ in Betrieb. Seit 1997 ist Jörg Christoffers, nach Übernahme der Firma Noormann, Kapitän auf dem neugebauten Muschelkutter „Anna“. Sein Sohn Björn hat im Oktober 2018 den Betrieb von seinem Opa Wolfgang übernommen, der sich nach über 50 aktiven Jahren in der Muschelfischerei nun zur Ruhe setzen wird.

Siebennus Gerjets baute am Hooksieler Außenhafen seit Anfang der 70er Jahre einen umfangreichen Muschelfischereibetrieb mit drei Schiffen, 16 Angestellten und Verarbeitungsanlagen für die Aufbereitung der Muscheln zum Frischversand in das Rheinland auf. Mit dem Kutter „Jade“ und später mit dem Spezialkutter „Schillhörn“ betrieb die Firma seit den 70er Jahren zudem die Herzmuschelfischerei. Aus dieser Fischerei wurden ca. 50% des Betriebsumsatzes erzielt. Der Herzmuschelfang wurde 1993 im Nationalpark verboten. Nach mehreren schlechten Miesmuscheljahren wurde der Betrieb mit zwei Miesmuschelkuttern und den dazugehörigen Muschelkulturen auf der Jade 1994 an David de Leeuw Muschelzucht GmbH veräußert. Diese stellte 2003 den Neubau „Royal Frysk“ in Dienst. Die Familie de Leeuw hat eine lange „Muscheltradition“; der Vater André betreibt in Schleswig-Holstein eine Muschelverarbeitungsfabik sowie zwei weitere Muschelkutter, auf denen ebenfalls seine Söhne als Kapitäe eingesetzt werden. Adrian de Leeuw, Davids Sohn, wird nach dem erfolgreichen Abschluss der Fischwirtschaftslehre in die Muschelfischerei in Niedersachsen einsteigen.

Der Greetsieler Fischereibetrieb Conradi fischte seit den 50er Jahren überwiegend Wellhornschnecken. In den 70er Jahren betrieb Heinrich Conradi mit dem Herzmuschelkutter „Ursula“ den Herzmuschelfang und stieg dann in den 80er Jahren ebenfalls in die Miesmuschelfischerei ein. Seit 1992 leiten die Geschäftsführer Karel Jan van Ijsseldijk sowie Leo van der Jagt die Firma Conradi GmbH. Sie bewirtschaften von Greetsiel aus Miesmuschelkulturen auf der Ems. 2005 wurde der Muschelkutter "Charlotte" durch die Firma in Dienst gestellt. Es handelt sich dabei um einen ehemaligen niederländischen Miesmuschelkutter, der 1995 zur Herzmuschelfischerei umgebaut wurde und nun wieder für den Miesmuschelfang in Niedersachsen eingesetzt wird.